Von Alice Schwarz
Bemerkenswert ist ein Film, wenn man ihn nach zwei Tagen
nicht vergessen hat. Noch bemerkenswerter, wenn er einem noch länger
''nachgeht". "Ushpizin" ist ein solcher Film.
Was weiß der säkulare Durchnittsisraeli über die jüdischen
Ultra-Orthodoxen, die Haredim "gleich um die Ecke"? Dass sie in einer
hermetischen Welt leben, die ihn ausschließt; die er nicht versteht und
meist auch nicht verstehen will. Dass ihre Art der absoluten,
kompromisslosen und alles andere ausschließenden Frömmigkeit ihm, auch
wenn er selbst nicht ungläubig ist, archaisch und exotisch vorkommt.
Dass sie und er selbst auf zwei verschiedenen Planeten wohnen. Auch wenn
sie der gleichen Volks-Gemeinschaft im gleichen Staat angehören. Dass
man sie mit einem Gemisch von Fremdheit, Verlegenheit und ein bisschen
Bewunderung wegen ihrer Halsstarrigkeit, aber auch Ablehnung
ebendeswegen betrachtet. Im 21. Jahrhundert scheinen sie nur Zaungäste
zu sein. Aber wenn sie einen zu nichts zwingen, bitte sehr...
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Es gab bereits mehrere Theaterstücke über die Haredim, die
meisten mehr als kritisch, manche strikt ablehnend. Einige waren
mitreißend bis ergreifend, voll des Verständnisses für die
Krisenanfälligkeit einer so extremen Existenz. Andere waren in manchen
Punkten beinahe abstoßend. Sie alle wurden von Säkularen geschrieben,
einstudiert und gespielt Sie wurden auch vorwiegend von Säkularen, kaum
je von Haredim gesehen.
Die in eigenen Kreisen gedrehten sehr spezifischen
Haredi-Filme für den Eigengebrauch kannte das breite Publikum wiederum
überhaupt nicht. Jetzt gibt es zum ersten Mal einen Film über diese
Thematik, der das Leben der Haredim nicht nur von außen, sondern von
innen her beleuchtet. Sowohl der
Regisseur-plus-Drehbuchautor-plus-Hauptdarsteller in einer Person,
Schuli Rand, als auch die meisten anderen Mitwirkenden gehören der
Haredi-Gemeinschaft an. Im Zusammenwirken mit säkularen Experten haben
die Haredim einen Film über sich selbst gedreht.
Das
Besondere an diesem Streifen ist, dass Schuli Rand beide Welten bestens
kennt. Bis vor wenigen Jahren war er ein säkularer, sehr erfolgreicher
Theater- und Filmschauspieler. So ist er unter anderem in Assi Dayans
bedrückendem, aber weltweit erfolgreichen Film "Das Leben laut Agfa"
aufgetreten. Vor einigen Jahren wurde er plötzlich fromm, "Choser
Betschuwa" - wie Ex-Kollege und Ex-Bohemien Uri Sohar. Zuerst zog er
sich vom Kunstbetrieb ganz zurück. Aber vor einiger Zeit hat er diesen
seinen Beschluss revidiert, sehr zum Gewinn der Kunstwelt. Zusammen mit
dem säkularen Regisseur Gidi Dar hat er das Drehbuch für "Ushpizin"
geschrieben und die Hauptrolle übernommen.
Ein weiterer Glücksfall in diesem Film ist die
Hauptdarstellerin, Michal Bat-Schewa Rand. Sie war Dramenautorin,
Schauspielerin und Regisseurin, bevor auch sie fromm wurde. Sie
heiratete Rand und spielt in dem Stück, was sie im wirklichen Leben auch
ist - Schuli Rands Frau. Außerdem wirken einige echte Haredim aus ihrer
Nachbarschaft in dem Film in kleineren Rollen oder als Statisten mit.
Das bürgt für Authentizität.
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Die Mitwirkung der Haredim hat die säkulare Filmindustrie
mit einigen Zugeständnissen erkauft. Der Film wird am Schabbat nicht
gezeigt. Der Name G'ttes wird nicht ausgesprochen. Es heißt nur "Elokim".
Sonst sind die Haredim ziemlich weit gegangen, scheuen auch nicht die
Absurdität und einen zuweilen selbstironischen Humor. Das trägt dazu
bei, dass der Streifen über eine Existenz als Kuriosum hinauswächst. Es
ist, bei manchen Naivitäten und Unglaubwürdigkeiten, ein guter Film
geworden.
Es ist eigentlich sogar ein ausgezeichneter Film, der auch
hervorragende Kritiken einheimste. Die einfache Geschichte wird gut und
zuweilen witzig erzählt, und wenn sie auch zuweilen ein frommes Märchen
scheint, bleibt sie doch fesselnd und interessant.
In einer Atmosphäre, die an Scholem Aleichem erinnert,
spielt sich in und um Jerusalem die Geschichte von Mosche und Mali ab,
dem Ehepaar, das in den letzten Jahren orthodox wurde und sich in der
streng gegliederten Hierarchie der Ultrafrommen angesichts
Kinderlosigkeit und Geldmangel in Schwierigkeiten sieht. Die Zeit ist
knapp vor Sukkot, dem Laubhüttenfest; die Jeschiwa, an der Mosche
studiert, hat für ihn kein Geld aufbringen können. Die beiden sehen
einem Fest ohne Kinder, ohne Sukka (Laubhütte), ohne einen Schekel, mit
nur einem Kohlkopf im leeren Kühlschrank und, oh Schande, ohne Gäste (ushpizin)
entgegen.
Der Film beginnt damit, dass Mosche versucht, Geld
aufzubringen und etwas für das Fest einzukaufen, während Mali in ihrem
kahlen Heim in dem von Stufen umgebenen Steinhaus, im Vis-a-vis mit dem
traurigen Kohlkopf und in Angst vor dem Miete heischenden Hausherrn, auf
ihn wartet. Mosche hat sich in einen besonders schönen und teuren Etrog,
die Limone für das Fest, verliebt; aber er hat weder das Geld für den
teuren Etrog noch auch nur eine Sukka. Da geschieht das erste Wunder:
Der Rabbi beschließt, eine plötzlich "frei" gewordene Spende von 1000
Dollar Mosche und Mali zukommen zu lassen. Mosche verfällt in einen
Einkaufsrausch. Warum vorsorglich in die Zukunft blicken, wenn G'tt
Wunder tut? Zum Einladen von Gästen ist es zu spät, aber plötzlich
tauchen zwei Kandidaten auf. Nur leider hat dieses zweite Wunder einen
Schönheitsfehler, denn die beiden sind entsprungene Häftlinge, die vom
Urlaub nicht ins Gefängnis zurückgekehrt sind.
Zudem stellt es sich heraus, dass die beiden Mosche sehr
gut kennen. Seine Vergangenheit ist nicht ganz astrein und sie haben
alle drei einst als Knastbrüder gemeinsam eine Zeit hinter Gittern
verbracht... Aber Mosche kann sie als Gäste nicht ablehnen. Die ushpizin
sollen heilig gehalten werden, die beiden Galgenvögel sind alles andere
als das, aber Mosche kann nicht anders, als sie willkommen zu heißen.
Auch wenn er ihnen nicht über den Weg traut. Das Drehbuch zeigt hier
sehr clever den Zwiespalt zwischen Mosches und Malis Drang, ihr
besinnliches Leben vor einer Umwälzung zu beschützen, und ihrer
religiösen Pflicht, die Gäste zu verwöhnen...
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Hier entsteht ein echtes Drama - das aber von grotesker
Komik begleitet ist. So wenn die beiden in ihrem Versuch, sich
anzupassen, gegen Regeln von Meah Schearim spektakulär verstoßen. Sie
versuchen sogar am Festtag im Freien zu grillen, spielen mitten auf der
Straße laute Trance-Musik und verwenden als Würze für das Fleisch die
"Zitrone", den sündteuren heiligen Etrog, den sie in Scheiben
schneiden...
Die Katastrophe scheint unabwendbar, aber die Verbrecher
werden überwältigt, ein Schlusswunder rettet das Märchen und die Ehe,
die beinahe am Zerbrechen war. Ende gut, alles gut.
Die Handlung und die Charaktere erscheinen manchmal etwas
zu nah, aber die allgemeine Atmosphäre ist berührend. Der Film
humanisiert und dramatisiert den Lebensstil der Haredim, wie ein
Rezensent meint, auch wenn der den Säkularen weiter fremd und
unnachvollziehbar bleibt.
Die großartigen Leistungen von Schuli Rand, seiner
hübschen, wenn auch sehr fülligen Frau Michal und von Schaul Misrachi,
der einen wahrhaft abgründigen, zornerfüllten Knastbruder
schauspielerisch zur Explosion bringt, prägen sich tief ein. Der Film
wird viele, die sich aus den Haredim nichts machen oder doch keinen
Gedanken an sie verschwenden, zum Nachdenken bringen. Darüber, dass eine
so von Frömmigkeit erfüllte Existenz - inmitten all ihres
Kleinkram-Alltags - doch ein okkultes Phänomen ist.