Fehlende
Sensibilität im Sprachgebrauch
BRIEF AN DIE SZ vom Dienstag, 17. Oktober 2000
zum Artikel: In Deutschland leben
mehr als 80 000 Juden
Dass der Umgang mit jüdischer Geschichte und Gegenwart in
Deutschland noch nicht ganz einfach ist, haben in den letzten Tagen auch
einige Ihrer Berichte verdeutlicht. Ihr Beitrag sollte dem Leser
grundlegende Informationen zur Situation der deutsch-jüdischen
Gemeinden vermitteln. Hier heißt es richtig, dass etwas mehr als die Hälfte
der Gemeindemitglieder (etwa 50 000) erst seit kurzer Zeit in der
Bundesrepublik lebt. Wenn dann im nächsten Satz allerdings behauptet
wird, dass die Mitgliederzahlen in den jüdischen Gemeinden in den
vergangenen Jahren um das Achtfache anstiegen, ist dies nicht nur
schlichtweg falsch, sondern steht auch im Widerspruch zur vorher
getroffenen Aussage. Im Übrigen wird unter den nachfolgend aufgeführten
größten jüdischen Gemeinden die Frankfurter einfach übersehen.
Vielleicht erklärt diese Verwirrung, dass in dem Kommentar am Vortag
(Fremdenhass hat ganzjährig Saison) zum Brandanschlag auf die Düsseldorfer
Synagoge Angriffe gegen jüdische Einrichtungen in Deutschland ganz
selbstverständlich unter der Rubrik Fremdenhass fungieren.
Hiermit übernimmt man im gewissen Sinn die Zielrichtung der
rechtsextremen Gewalttäter, die sich natürlich gegen Juden und Fremde
gleichermaßen richten. Allerdings macht dies deutsche Juden eben noch
lange nicht zu Fremden.
Hier ist ebenso Sensibilität im Sprachgebrauch angesagt wie in dem
auf der gleichen Seite veröffentlichten Beitrag von Thorsten
Schmitz zur Situation in Israel (Schreckliche Tage). Es ist
durchaus legitim, Ariel Sharons Gang auf den Tempelberg auch polemisch
zurückzuweisen, aber man muss wissen, welche Assoziationen erweckt
werden, wenn man einen israelischen Politiker des
Herrenmenschengehabes bezichtigt. Leider scheinen Vergleiche, die
die NS-Terminologie heraufbeschwören, aber zu den beliebtesten
Stilmitteln des derzeitigen Israel-Korrespondenten der SZ zu gehören.
Prof. Dr. Michael Brenner, München
In
Deutschland leben mehr als 80 000 Juden
SZ vom 5. Oktober
Frankfurt (AFP/ddp) In Deutschland leben
derzeit mehr als 80 000 Menschen jüdischen Glaubens. Nach Angaben
der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland gehörten Anfang
des Jahres insgesamt 81 739 Menschen jüdischen Gemeinden an. Mehr
als die Hälfte von ihnen ist erst seit relativ kurzer Zeit in der
Bundesrepublik. Es handelt sich bei ihnen um gut 50 000 Zuwanderer
aus Osteuropa, die nach dem Ende des Kalten Krieges nach Deutschland
gekommen sind. Sie mussten für die Daueraufenthaltsgenehmigung
nachweisen, dass sie Juden sind oder zumindest einen jüdischen
Elternteil haben.
Schwierige Integration
Angesichts der Zuwanderung wuchsen die
Mitgliederzahlen in den jüdischen Gemeinden in den vergangenen Jahren
um das Achtfache. Diese für das jüdische Leben in Deutschland positive
Entwicklung brachte aber auch große Probleme mit sich: Die Bemühungen
um Integration stoßen wegen fehlender Mitarbeiter und Räumlichkeiten
immer wieder an Grenzen. Die größte jüdische Gemeinde mit 11 190
Mitgliedern befindet sich in Berlin, gefolgt von München mit 7219
Mitgliedern, Düsseldorf mit etwa 5000 Mitgliedern und Hamburg mit 4270
Mitgliedern.
Vertreten werden die Juden durch den Zentralrat, der
Dachorganisation der insgesamt 84 jüdischen Gemeinden in Deutschland.
Die im Jahr 1950 gegründete Organisation wirkt sowohl nach innen als
Verband, der das kulturelle und soziale Leben der jüdischen
Gemeinschaft fördert, als auch nach außen als Vertretung der Juden und
Ansprechpartner für Politik und Gesellschaft. An seiner Spitze steht
Paul Spiegel, der im Januar dieses Jahres die Nachfolge des verstorbenen
Ignatz Bubis antrat. Neben der Integration der Zuwanderer aus den
Staaten der früheren Sowjetunion sieht er seine Hauptaufgabe im Kampf
gegen zunehmenden Rechtsradikalismus und Antisemitismus.
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